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Angela Kastrinaki, Universität Kreta
KAZANTZAKIS UND DIE TOPOI DER DEKADENZ
1. Frauenmorde kommen bei Kazantzakis so oft und mit solcher Besessenheit vor, dass sie eines seiner Hauptmerkmale darstellen, das, wenn nicht das Verhältnis von Kazantzakis selbst zu den Frauen, mit Sicherheit aber das Verhältnis des Schriftstellers zur Kunst offenbart – das soll im Folgenden gezeigt werden.
Bereits in seinem ersten Werk, Schlange und Lilie (1906), findet sich das erste Beispiel: Ein gewisser Maler – Hauptfigur und Erzähler zugleich – tötet das Objekt seiner Begierde – und sich selbst – nach einem wahnsinnigen Erlebnis fleischlicher Lust in einem mit Blumen gefüllten Zimmer. Der Tod durch Blumen ist keine Erfindung von Kazantzakis: Heliogavalos, der seine Gäste mit Rosenblättern tötete, war eine der Lieblingsfiguren der Dekadenz-Literatur, und wurde durch das Sonett von Gryparis "Die Rosen von Heliogavalos" (1895) nach Griechenland gebracht.
In Schlange und Lilie bezeichnet der Mann sich selbst als "Auserwählten", in ihm brennt eine göttliche Flamme und er träumt von seiner Rückkehr in eine höhere Heimat, an die er sich erinnert und nach der er sich sehnt. Die Frau, im Gegenteil, ist schwach und ihre Seele stammt aus "anderen, unterlegenen Welten". Der überlegene Mann, dessen künstlerische Tätigkeit wegen der Frau auf Eis gelegt ist, beschließt und führt ihre gemeinsame Hinrichtung aus, während sie vergebens versucht, sich dagegen zu stellen. Das ist der erste Fall eines Frauenmords in Kazantzakis' Werk, der allerdings von einem Selbstmord begleitet wird. Bald fängt Kazantzakis jedoch an – von der Verpflichtung einer gemeinsamen Hinrichtung befreit –, seine Heldinnen töten zu lassen (hierbei ist zu bemerken, dass Kazantzakis in seiner frühen Phase, bevor er Nietzsche kennengelernt hatte, ein Feminist war). Im 1910 erschienenen Theaterdrama "Der Werkmeister" – dem in ein Bühnenstück umgearbeiteten Volkslied To gefyri tis Artas [Die Brücke von Arta] – fordert der Mann die Frau, die er liebt, auf, sich zu opfern – indem sie sich in die Brücke bauen lässt –, weil er glaubt, an ihrer Seite die höchste Schöpfung nie erreichen zu können.
Die zwei bereits erwähnten Werke sind, sowohl thematisch als auch stilistisch, wahre Beispiele des Ästhetizismus. Diese Kunstanschauung rechtfertigt in der Tat die Opferung des Menschen um der Schöpfung willen. Von Poes Werk "Das Ovale Porträt", in dem der Maler das perfekte weibliche Porträt anfertigt, während sein Modell dahinsiecht und stirbt, bis zur abscheulichen Hinrichtung eines Sklaven in Pierre Louys' "L'Homme de pourpre", damit der menschliche Schmerz wirklichkeitsgetreu wiedergegeben wird: Ästhetizismus vertritt die Vorstellung, dass das menschliche Leben belanglos ist, verglichen mit der Größe der Kunst.
So liegt der Tötung der Frau in den frühen und eindeutig ästhetizistischen Schriften von Kazantzakis diese Logik zugrunde: Der Mann, der zu Höherem bestimmt ist, tötet das, was ihn am Erreichen seiner höheren Bestimmung hindert, oder lässt es töten. Aber auch im späten Werk des Schriftstellers lassen die Morde an Frauen nicht nach. Ein charakteristisches Beispiel ist die Hinrichtung der Witwe im Roman "Alexis Sorbas", während ein noch typischeres Beispiel die Tötung von Emine Hanum in "Freiheit oder Tod" ist.
Dort ersticht bekanntlich Kapitän Michalis Emine, die Frau, die er begehrte, um sich von seinen niederen Trieben loszulösen und sich der Befreiung von Kreta zu widmen. Die Befreiung von Kreta ist wiederum nichts Anderes als eine neue Version der Erhabenen Schöpfung, wobei es hier nicht um ein Kunstwerk handelt, wie das in den ästhetizistischen Schriften der Fall ist, sondern um eine andere, erhabene – der weiblichen Natur fremde – Idee. Das Motiv besteht aber fort: Der Mann opfert die Frau, was ihn von seinen niederen Trieben befreit und ihn dazu fähig macht, seine Bestimmung zu erfüllen.
Kazantzakis teilt diese Obsession mit G. D' Annunzio, dem um die Jahrhundertwende berühmten italienischen Vertreter der Dekadenz. Auch bei ihm ist die gewaltsame Tötung der Frau ein immer wiederkehrendes Motiv. In seinem Werk "Il Trionfo della Morte" (1894) tötet der intellektuelle Held die Femme fatale, weil sie seine geistige Tätigkeit erschwert: Indem er sie fest in seinen Armen hält, reißt er sie von einem hohen Fels aus ins Meer mit. In diesem Fall ist der Tod wenigstens gemeinsam, wobei die Frau sich dagegen wehrt, wie in Kazantzakis' "Schlange und Lilie". Doch in anderen Werken schildert D' Annunzio Frauenmorde, die dazu dienen, die männlichen Helden von gewaltsamen Trieben zu befreien.
Bei D' Annunzio finden sich zahlreiche Hinrichtungen von Frauen, die allerdings nicht von den Männern, die diese begehren, sondern von der Menschenmenge ausgeführt werden. Aus diesen Hinrichtungen scheint der Schriftsteller sich ein besonderes Vergnügen zu machen. Eine seiner Heldinnen, Mila, aus der bukolischen Tragödie La Figlia di Iorio (1904), wird von der Menschenmenge als Hexe lebend verbrannt. Es handelt sich um eine unschuldige junge Frau, eine Fremde, die das Unglück hat, die Männer besonders anzuziehen und sich dadurch den Hass der anderen Frauen zuzuziehen. All das erinnert an die Tötung der Witwe in Alexis Sorbas: die attraktive und verfolgte Frau; die bukolische Kulisse; die aufgebrachten Mengen von Männern, die sie begehren, und Frauen, die sie aus Eifersucht und Aberglauben hassen; die rituelle Hinrichtung.
Von seiner Frühphase bis hin zu seiner Spätphase lässt Kazantzakis in seinen Werken Frauen töten, und opfert sie im Wesentlichen somit auf dem Altar des Ästhetizismus. Dabei ist allerdings zu bemerken, dass er in seinen späten Werken, die zu dieser Kunstströmung angeblich nicht zuzuordnen sind, im Vergleich zu seinen frühen Werken noch einen Schritt weiter geht. Während in Schlange und Lilie der Frauenmord den Tod des Mannes mit sich bringt und im Werkmeister die Frau sich freiwillig opfert, so dass die männliche Gesellschaft durch einen Frauenmord nicht in Verruf kommt, hat Kazantzakis immer weniger Hemmungen, wenn er in seinen späten Werken Frauen töten lässt: In Freiheit oder Tod wird die Frau im Schlaf von eben diesem Mann, der sie begehrt, getötet – ohne das geringste Schuldgefühl.
2. Neben dem Mord an Frauen weist auch der Geschlechtsakt mit ihnen in Kazantzakis' spätem Werk deutliche Züge des Ästhetizismus auf. Die vorgeblich autobiografische Episode mit der irischen Frau in der Rechenschaft vor El Greco stellt ein charakteristisches Beispiel des Ästhetizismus dar und ist nur dem Anschein nach realistisch. Es geht um das Kapitel, in dem Kazantzakis von seinem Verhältnis als Achtzehnjähriger mit seiner Englischlehrerin erzählt, einer reifen, wie eine "honigsüße Feige", Irin. Er erzählt, dass er mit ihr den Berg Ida hinaufsteigen wollte, und dass sie auf dem Gipfel in einer Kirche vor den Augen Jesu und Mariä Verkehr miteinander hatten. Das Erlebnis mit der Irin habe seine junge Seele verfolgt und ihn zur Schlange und Lilie inspiriert, schreibt Kazantzakis. Doch die Szene des Verkehrs in der Kirche ist nicht bei Kazantzakis zum ersten Mal zu finden. Sie mag nicht charakteristisch für die Zeit, in der die Rechenschaft vor El Greco verfasst wurde, sein, sie ist jedoch mindestens zwei Mal bei Schriftstellern anzutreffen, die von derselben Strömung wie Kazantzakis geprägt worden waren, nämlich dem Ästhetizismus des frühen 20. Jh. In seinem 1909 erschienenen Werk "Vissini triantafyllo [Lila Rose]" erzählt Platon Rodokanakis von einem Paar, das in der Kapelle eines verwaisten Klosters Verkehr hat. Das gleiche Motiv kommt wieder im 1930 erschienenen "Lemonodasos [Zitronenbaumwald]" von Kosmas Politis vor. Szenen solcher Art sind jedoch in der griechischen Literatur nicht so häufig anzutreffen, wie in der europäischen, in der die Verbindung des Wollüstigen mit dem Göttlichen sowie die Schändung des Heiligtums einen Topos der Kunst darstellen, insbesondere der Romantik. Außerdem sind in der katholischen Tradition zahlreiche Darstellungen zu finden, in denen das Göttliche und das Wollüstige sich vereinen. Berninis heilige Theresa vom 16. Jh. ist in völlig irdischer Verzückung, während sie vom Pfeil der göttlichen Liebe durchbohrt wird; Maurice Barres – einer von Kazantzakis' Vorläufern – definiert "Neo-Katholizismus" als "einen Weg, die Sinnlichkeit mit der Religion zu vermengen". Kazantzakis wiederum verbindet im Werk Schlange und Lilie – dem angeblich die Geschichte mit der Irin zugrunde liegt – das Göttliche mit dem Wollüstigen in einer eher gotteslästerlichen Art und Weise:
"Ich will die Kommunion deines Körpers heute Abend empfangen. Nach dem Abaton und Allerheiligsten deines Fleisches sehne ich mich. Als Vertreter des wahren Gottes werde ich heute Abend Opfer darbringen und dein Körper wird zum Gotteshaus, unser wollüstiges Gestöhn zu Hymnen, und unser sinnliches Behagen zu religiöser und himmlischer Ekstase, […]"
Der Höhepunkt der Wollust wird durch die Gotteslästerung erreicht. Marquis de Sade scheint dabei ein Vorreiter zu sein. In seinem Werk "Die Philosophie im Boudoir" fordert er auf: "Bitte, bitte, Eugenie, überlassen Sie alle Ihre Sinne der Wollust, sie ist der einzige Gott Ihres Daseins; dem muss eine junge Frau Opfer darbringen; nichts soll in deren Augen so heilig sein wie die Wollust." Es gibt allerdings noch eine Lehre des Marquis, die der Ausdrucksweise von Kazantzakis nahekommt, und die besagt, dass es diverse Stellen am weiblichen Körper gibt (mal von der üblichen abgesehen), die dem männlichen Glied auch "weitere Altare anbieten, auf denen er seinen Weihrauch verbrennen kann".
Die Geschichte mit der Irin – selbst wenn sich fiktiv ist (damals war Kazantzakis ohnehin in einer leidenschaftlichen platonischen Beziehung mit Galatea Alexiou, der er auch das Werk Schlange und Lilie widmet) – zeigt folglich die inneren Triebe des Schriftstellers, wovon er vom ersten bis zum letzten Werk besessen ist, und die ihn zu einem wahren Kind der Dekadenz machen.(c) Angela Kastrinaki