-
Stamatis N. Filippides, Universität Kreta
VOLKSTÜMLICHE ELEMENTE IN KAZANTZAKIS' ROMANEN
Kazantzakis fügt in seine Romane Elemente der volkstümlichen Rede ein bzw. er nimmt diese zum Vorbild. Das sind unter anderem: Sprichwörter oder sprichwörtliche Wendungen; Volkslieder, insbesondere Mantinades [kretische Volkslieder]; zotige Witze oder Witzeleien; der parataktische Stil; syntaktische Wiederholungen, insbesondere das Asyndeton, und im Allgemeinen der mündliche Sprachgebrauch; Spitznamen und für Tiere typische Adjektive – auf Menschen angewandt; volkstümliche Erzählungen und Anekdoten; die parataktische und kontrastive Strukturierung von Erzählungseinheiten. Die volkstümliche Erzählungsweise charakterisiert die Texte zahlreicher griechischer Prosaisten. Kazantzakis' Romane haben jedoch die Eigenart, dass es in denen die –scheinbar paradoxe – Verknüpfung einer erhabenen Thematik (Gott und Mensch, Geist und Fleisch, Gerechtigkeit und Liebe, Freiheit und Sklaverei) mit volkstümlichem Stoff sich vollzieht, das oft ironisch, lebensklug oder gar vulgär ist. Die oben aufgezählten sprachlichen Elemente werden hier stichprobenartig untersucht; das einzige Element, worauf wir hier etwas ausführlicher eingehen werden, ist die parataktische Strukturierung bestimmter Erzählungseinheiten, der eingefügten Erzählungen, da sie ein herausragendes Merkmal der Erzählungskunst von Kazantzakis darstellen. […]
Die fiktiven Figuren bieten, sowohl bei deren erster Vorstellung als auch an späteren Stellen im Text, einen Anlass zu Einschüben. In der Griechischen Passion gibt es etwa vierzig Figuren, und die über sie eingefügten Kurzerzählungen haben volkstümlichen Charakter: der geizige alte Ladas rechnet nach dem Tod seiner Tochter das Geld aus, das ihn ihre Hochzeit gekostet hätte, oder trägt seine Hochzeitsschuhe nur zu Ostern; die Frau des Händlers Jannakos hat bis zum Platzen Kichererbsen gegessen; die erfundene Geschichte des alten Mönches aus dem Berg Athos, dass Blinde in einem weit entfernten Dorf einen Elefanten tastend beschrieben haben; der Mörder eines Priesters, der später zum Priester Fotis wird; der angehende Metropolit, der letztendlich zu einem Küster wird, weil er dem Teufel, seiner künftigen Ehefrau, begegnet sei; der Dorflehrer, der im Kafenion die Schlacht bei Marathon mithilfe der Stühle rekonstruiert; die "Parabel" des Großvaters des Aga von Likovrissi, dass Allah die Griechen aus Feuer und Dung geschaffen hat.
Der Text von Freiheit oder Tod kommt oft einer Collage aus volkstümlichen Erzählungen über fiktive Figuren nahe: die Geschichte von der an Tuberkulose leidenden französischen Primadonna, der Frau des Arztes Kasapakis, die sich in übertriebener Weise schminkte, um ihre Krankheit nicht merken zu lassen; von Barba-Giannis, der Salep-Verkäufer und Hebamme zugleich ist, der verhöhnt wird, wenn er an den Stiefelmachern vorbeigeht, der die Verkörperung des Christentums ist, wenn er zum Pascha spricht; von dem Revolutionskämpfer von 1921, Kapetan Ilias, der zu festlichen Anlässen sein Glasauge in einem Glas Wasser aufbewahrt; von Charilaos Liontarakis, der jeden Morgen ein rohes Ei schlürft, in seinem Versuch, das Dienstmädchen, dem er abends begegnet, flachzulegen; vom Totengräber Kollivas, der die Leichen entkleidet, um seine Familie zu bekleiden; von dem alten Rabbiner, der alleine auf der Welt geblieben ist und in seinem leeren Haus sich mit Jahve laut streitet; von Kapitän Michalis, der in das türkische Kafenion eingeritten ist. Kurz gesagt, die ungefähr 110 Figuren dieses Romans veranlassen jeweils mindestens eine Kurzerzählung. […]
Es gibt diverse Faktoren, die Kazantzakis' Entscheidung zugrunde liegen, volkstümliche Elemente in seine Romane einzufügen oder sie verändert wiederzugeben. Der Schriftsteller war schon sehr früh im Kampf für die Demotiki [Volkssprache] engagiert und war Mitarbeiter beim Lehrerverband (1909-1919). Der Kampf für die Sprache des Volkes und die Liebe zu ihr führten dazu, dass er Respekt und Liebe auch zu volkstümlichen Veranstaltungen, Bräuchen, etc. entwickelte.
Darüber hinaus sind in Kazantzakis' Romanen die Entwicklung von primitiven fiktiven Figuren, der fast epische, lineare Aufbau der parataktisch oder kontrastiv zu entwickelnden Handlung sowie die vereinfacht und kontrastiv dargelegten Ideologien auf die Weltanschauung von Kazantzakis zurückzuführen, die auf dem Vitalismus und einer dialektischen Denkweise basierte. Der Gegensatz zwischen dem Erhabenen und dem Ungeschliffenen ist also im Rahmen eines so beschaffenen Universums an Ideologien zweckmäßig und erklärbar: Das Ungeschliffene ist die Kehrseite des Erhabenen und das Erhabene wiederum die Kehrseite des Ungeschliffenen.
Laut mancher Kritiker findet sich in Freiheit oder Tod ein Gemisch aus verschiedenartigen volkskundlichen oder anekdotischen Elementen, die "die Darstellung des Wesentlichen" verdunkeln bzw. Dissonanz verursachen. Das ist jedoch ein Missverständnis. In Wirklichkeit handelt es sich dabei um eine Methode, die von Buch zu Buch angewandt wird und die Historie in diesem bestimmten Roman auf eine Weise transformiert, die – mutatis mutandis – an den zeitgenössischen "magischen Realismus" von Gabriel Garcia Marquez erinnert. James Higgins' Beschreibung von Gabriel Garcia Marquez' Erzählung "Das Leichenbegräbnis der Großen Mama" (die 1962 erschienene Erzählung ist das lateinamerikanische Pendant zur neugriechischen 1947 verfassten Erzählung "Der Tod des Großvaters", die als Kapitel in Freiheit oder Tod vorkommt) trifft genau so gut auf den Roman von Kazantzakis zu.
Die Erzählung hat im Wesentlichen den Charakter einer volkstümlichen mündlichen Erzählung, die das Mythische in den Vordergrund stellt und die Welt überdimensional darstellt. Dieser "magische Realismus" lässt sich jedoch gleichzeitig durch einen ironischen, respektlosen Ton ausgleichen, der genau den Mythos untergräbt, den er hervorbringt.
Kazantzakis' Romane sollten weniger aufgrund der ihnen zugrunde liegenden Ideologie, des so genannten "heldenhaften Nihilismus", interessant sein, als vielmehr aufgrund der unzähligen Kurzerzählungen, die, wenn der Leser sie auf sich wirken lässt, ihn mit dem primären narrativen Kern der Mythen verbinden.(c) Stamatis N. Filippides