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THEOCHARIS DETORAKIS, Universität Kreta
NIKOS KAZANTZAKIS – DER KRETER
Es ist mehrmals versucht worden, die Beziehung von Kazantzakis zur Geschichte seiner Heimat oder, eher, die Mythologisierung der Geschichte Kretas seitens von ihm auszulegen. Man spricht dabei von einer "volkskundlichen" oder "poetischen" Interpretation der Geschichte, und Kazantzakis wird in dieser Hinsicht als Schöpfer des "neugriechischen Mythos von Kreta" betrachtet, worunter die Befreiungskriege der Kreter zu verstehen sind. Die Kazantzakis-Forscher, die in diese Kategorie fallen, betrachten ihn als Herodots ehesten geistigen Verwandten¬. Für andere ist Kazantzakis mit Homer am ehesten geistesverwandt, er sei "Homer des modernen Griechenland" und Urheber des hervorragendsten Denkmals des neugriechischen archaischen Geistes. Diese Kategorie der Forscher von Kazantzakis betrachtet seine Werke – insbesondere die "kretischen" – als authentische Volkslieder in prosaischer Form. Diese Bemerkungen sind zwar sehr gewichtig, können aber nicht allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Es wäre falsch, Kazantzakis als einen Mythografen oder Dichter anzusehen, der bloß mithilfe seiner Geistes- und Ausdruckskraft die Geschichte in Mythos umwandelt. In seinen kretischen Werken und vor allem in Freiheit oder Tod finden sich historisch fundierte Elemente, die ihre historische Bedeutung nicht verlieren, im Gegenteil, sie lassen sich durch die Kraft des Literaten noch mehr mit Leben erfüllen. Der Kretahistoriker kann leicht zwischen einem historischen und einem mythischen Element unterscheiden, denn er erkennt in einem Werk Bilder aus der Geschichte, die ein Nichtkundiger als fiktiv einschätzen würde.
Kazantzakis verbrachte seine Kindheit in Heraklion, in den letzten 15 Jahren der osmanischen Herrschaft auf der Insel. Er war knapp 7 Jahre alt, als die Revolution von 1889 ausbrach, und 15 Jahre alt, als seine Heimat 1898 im Rahmen der Lösung der Autonomie befreit wurde. Er wurde Zeuge der letzten Revolutionen und atmete die Luft des Heldengeistes bei Anbruch der kretischen Freiheit. Die Revolution von 1889 inspirierte ihn zum Roman Freiheit oder Tod. In diesem Werk bearbeitete Kazantzakis seine Kindheitserinnerungen, indem er ihnen einen epischen Rahmen gab, und rief das Bild seiner Heimatstadt ins Leben zurück, wie er sie als Kind wahrgenommen hatte. Der Schauplatz des Romans ist wahr in jeder Hinsicht. Die dort geschilderten historischen Ereignisse entsprechen meistens ebenfalls der Realität, sind jedoch – was auch legitim ist – mit mythischen Elementen vermengt. Man erkennt reale Heldennamen, wirklichkeitsgetreue Elemente des alltäglichen Lebens sowie Ereignisse, die sich durch die historische und volkskundliche Forschung von Kreta und insbesondere der Region Heraklion nachweisen lassen.
Im Roman Alexis Sorbas erinnert sich Kazantzakis an die Zeit der Unabhängigkeit, als Kreta unter dem Protektorat der Admirale der Großen Mächte Europas stand (1898-1908). Dabei herrscht nun ein anderes Klima, das uns einen schönen literarischen Einblick in diese Epoche der kretischen Geschichte gewährt, sowie auch in die seinerzeit vorherrschenden Ideen und Visionen. Doch in diesem Roman stellt das historische Element nur noch den Kontext dar, in den ein hinreißender literarischer Mythos sich einbetten lässt. Während in Freiheit oder Tod die Fiktion vor den historischen Tatsachen in den Hintergrund tritt, ist in Alexis Sorbas genau das Gegenteil der Fall – die Geschichte tritt hier vor der Fiktion in den Hintergrund. Kazantzakis schöpft dabei weiterhin aus dem volkstümlichen und kulturellen Reichtum von Kreta.
Ein allgemeines Bild der "kretischen" Periode seines Lebens bietet uns die Rechenschaft vor El Greco. Das ist das Werk, in dem nicht nur das Leben und der Geist von Kazantzakis sich interpretieren lassen, sondern auch die Entstehungsweise seiner Werke. Sein Geständnis legt seine Beziehung zu Kreta an den Tag und stellt ein nützliches Werkzeug zur Interpretation der Entstehungsweise seiner Werke dar.
Die Liebe und die Bewunderung, die Kazantzakis für Kreta und für die kretische Denkart und Ausdrucksweise empfindet, durchziehen alle seine Werke. Kazantzakis selbst treibt oft den Ausdruck seiner Liebe zu Kreta ins Extrem, wenn er von einer "kretischen Sicht der Welt" spricht und wenn er behauptet, dass er Kreta wie nichts Anderes auf der Welt liebt, und dass Kreta seinen geistigen Werdegang und seine Weltanschauung prägte. Kreta ist für ihn der Archetyp, der Anfang und das Ende seines ganzen Werdegangs. Abgesehen aber von dieser emotionalen und ideellen Beziehung des Schriftstellers zu Kreta ist in all seinen Werken (und nicht nur in den kretischen) ein Reichtum an Elementen aus der Geschichte und der Volkskunde Kretas zu finden, die manchmal wirklichkeitsgetreu, manchmal entstellt – mit Absicht oder nicht – geschildert sind, je nachdem, worauf der Schriftsteller jedes Mal abzielte und wie genau und klar er die Personen und Ereignisse in Erinnerung hatte. Es ist also notwendig, die Leserschaft auf diese Elemente aufmerksam zu machen, insbesondere das ausländische Publikum, das mit der Geschichte und Kultur der Heimat von Kazantzakis nicht vertraut ist.
(c) Theocharis Detorakis
- Kazantzakis spricht über Kreta