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Peter Bien, Dartmouth College, USA
SCORSESES SPIRITUELLER JESUS
Riparius, N.Y.
Bigotterie ist besonders hässlich, wenn sie von Christen praktiziert wird, die bescheiden und barmherzig sein sollten, wie ihr Religionsstifter war. Die von fundamentalistischen Protestanten initiierte Kampagne gegen den Film von Martin Scorsese, der auf Kazantzakis' Novelle Die letzte Versuchung Christi basiert, entspricht vollkommen der Bigotterie-Definition, wie man sie im Wörterbuch findet: "Intolerante Engstirnigkeit, die jeder Logik und jedem Argument entgegensteht."
Das Buch von Kazantzakis wurde auf dieselbe unsinnige Weise angegriffen. Als es 1955 in Griechenland erschien, versuchte die Orthodoxe Kirche, gerichtlich gegen dessen Autor vorzugehen. Als das Buch in verschiedene westeuropäische Sprachen übersetzt erschien, setzte die römisch-katholische Kirche den Roman auf den Index der verbotenen Bücher. In den USA versuchten fundamentalistische Protestanten ohne Erfolg, die englische Ausgabe des Romans aus den Bibliotheken zu entfernen. Und das im Jahr 1960.
Nichtsdestoweniger wurde Die letzte Versuchung Christi in den letzten drei Jahrzehnten in Europa, Griechenland und den USA von einem breiten Publikum mit Bewunderung aufgenommen, das sein religiöses Engagement zu vertiefen begehrte. Das ist darauf zurückzuführen, dass Kazantzakis' Version der Evangelien das Christentum nicht untergräbt, sondern vielmehr den Dienst Jesu sinnvoller für den modernen Menschen macht. Martin Scorsese gehört zu den Menschen, die die Absicht der Novelle begreifen. Doch am 15. Juli erklärte sich Bill Bright, Gründer des Campus Crusade For Christ, bereit, dem Verleiher, Universal Pictures, die Auslagen zu erstatten, würde dieser ihm alle Kopien des schamlosen Films zur Vernichtung geben. Der Filmverleih antwortete eloquent mit einer ganzseitigen Werbeanzeige, dass die Gedankenfreiheit nicht käuflich ist.
Der Film (den ich noch nicht gesehen habe) kommt plangemäß morgen in den Kinos an. Wird es dann ein breites Publikum erreichen, trotz der Machenschaften der Fundamentalisten, die darauf abzielen, die Kinotheater zum Boykott des Filmes zu überreden? Was für ein Paradox, dass die christlichen Pfarrer sich einer literarischen Version des Lebens Jesu entgegensetzen, die so ehrfurchtsvoll ist! Indem sie ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte künstlerische Freiheiten konzentrieren, die Kazantzakis sich erlaubt hat, werfen sie ihm vor, dass er Jesus erniedrigt.
Der Zweck dieser Novelle ist jedoch, Jesus zum Vorbild für uns alle zu machen, in einer Zeit, in der die westliche Kultur verfällt, weil sie das Glück über die Spiritualität stellt. Kazantzakis' Jesus hilft mit Hingabe den Anderen, und widmet sich der Versöhnung und der selbstlosen Liebe. Um es in der Sprache der Fundamentalisten auszudrücken – eine Sprache, die Kazantzakis ebenfalls verwendet: Jesus war dem Willen Gottes mit Hingabe gewidmet. Das, was Jesus tut (und Kazantzakis hofft, dass wir alle tun werden, nach dem Vorbild Jesu), ist, der "letzten Versuchung" zu widerstehen, sprich dem letzten und am schwersten wiegenden Hindernis auf dem Weg zum spirituellen Leben.
Indem Kazantzakis die letzte Versuchung als Glück definiert, weicht er vom Buchstaben – aber nicht vom Sinn – der Evangelien ab. Das Glück, das durch materialistische Wohlfahrt erreicht wird, unterscheidet sich nach Kazantzakis nicht wesentlich von den in den Evangelien geschilderten Versuchungen Christi in der Wüste (Matthäus 4, 1-11; Lukas 4, 1-13), die in ihrer Gesamtheit mit materialistischer Macht zu tun haben.
Kazantzakis bringt bloß den Materialismus mit Jedermann in Verbindung, dadurch, dass er Jesus dazu bringt, der universalen Versuchung zu widerstehen, die darin besteht, die Bequemlichkeit, die Sicherheit, das Ansehen und die Nachkommenschaft über den Schmerz, die Einsamkeit und das Martyrium des spirituellen Lebens zu stellen.
Für einen Augenblick stellt sich Jesus eine andere, glückliche Laufbahn vor. Er stellt sich vor, dass er Sex hat, dass er Vater wird und dass er sich einen Namen als der beste Zimmermann in Nazareth macht. Er stellt sich für einen Moment vor, dass er glücklich ist. Doch Er lehnt diese Vision ab und beteuert die spirituelle Berufung, die zu Seiner Kreuzigung führte. All dies, das als blasphemisch von den Fundamentalisten denunziert wurde, ist Kazantzakis' Art und Weise der Dramatisierung von St. Pauls Schlussfolgerungen über die Versuchungen Christi: "Denn er nimmt sich ja nicht der Engel an, sondern des Samens Abrahams nimmt er sich an. Daher musste er in allen Dingen seinen Brüdern gleich werden…Denn worin Er gelitten hat und versucht ist…Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte Mitleiden haben mit unsern Schwachheiten, sondern der versucht ist allenthalben gleichwie wir, doch ohne Sünde." (An die Hebräer 2, 16-18; 4, 15)
Ich behaupte nicht, dass Kazantzakis ein orthodoxer Christ war. Er verlor bereits in jungen Jahren seinen Glauben, da er Darwins Lehre mit dem christlichen Versprechen eines Lebens nach dem Tod nicht vereinbaren konnte. Was er jedoch nie verlor, ist seine Hochachtung vor Jesus und seine Überzeugung, dass der idealistische Dienst, der zum Martyrium, zum Tod und zur Auferstehung führt, für uns heute – wie auch für die frühen Christen – der Inbegriff einer spirituellen Laufbahn bleibt.
Selbstverständlich interpretiert er und nimmt sich gewisse Freiheiten heraus. Aber seine Absicht, wie bereits so viele Leser entdeckt haben, ist, Jesus für das 20. Jahrhundert zugänglich zu machen.
Aus diesem Grund bin ich enttäuscht und verblüfft über den Zorn der Fundamentalisten. Ihr Widerstand gegen den Film, der so auffällig im Gegensatz zu ihren angeblichen Zielen steht, rührt aus der pharisäischen buchstäblichen Gesetzesauslegung – genau das, was Jesus selbst ablehnte. Jegliche Interpretation versetzt sie in Schrecken. Aber der Hauptzweck des Diensts Jesu bestand darin, die Nachkommen von Abraham dazu anzutreiben, nach dem Sinn und nicht nach dem Buchstaben der überlieferten Lehre zu suchen, und somit diese Lehre für ihr Leben relevant zu machen.
Wäre Kazantzakis heute am Leben, um den Charakter des Widerstands der Fundamentalisten zu bezeugen, würde er ohne Zweifel Bill Bright mit den Worten Jesu aus der Bergpredigt antworten: "Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?" (Mattäus 7, 3)(c) Peter Bien, 1988