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RODERICK BEATON, Kings College, London
NIKOS KAZANTZAKIS: CHRISTUS WIRD WIEDERGEKREUZIGT*
Der Roman spielt in einem griechischen Dorf im Inneren von Anatolien, kurz vor der griechischen Niederlage von 1922. Er erzählt von der Ankunft im Dorf einer vor den Kämpfen geflüchteten Gruppe von Menschen, während die Jüngeren unter den Dorfbewohnern sich vorbereiten, bei einer Aufführung der Leiden Christi zum nächsten Osterfest zu spielen. Unter dem Druck dieser Ereignisse identifizieren sich die potenziellen Hauptdarsteller der Passion immer mehr mit den Rollen aus der Bibel, die sie spielen sollen, oder werden sogar davon besessen. Das geht über die "realistischen" Motive der bevorstehenden Aufführung der Passion hinaus und gilt für alle Darsteller. Die Gemeindeältesten gelangen unbewusst in die Rolle der Pharisäer; Grigoris, der Dorfpriester, wird unmerklich durch die Umstände und sein Temperament dazu gebracht, die Rolle von Kajaphas zu spielen; die Rolle von Pilatus spielt vortrefflich, jedoch unabsichtlich, – und mit viel Humor seitens von Kazantzakis – der türkische Aga der Region, ein gutmütiger, gelassener Päderast, der am Ende durch das unverständliche, seltsame Verhalten der ihn umgebenden Griechen in den Wahnsinn getrieben wird. Die Novelle endet mit Manolios, dem Jesusdarsteller, der um Mitternacht auf den ersten Weihnachtstag in der Kirche getötet wird, als die Nachricht ankommt, dass das türkische Heer herannaht: Es ist der Vorabend der Kleinasiatischen Katastrophe und der Vertreibung der griechischen Bevölkerung von Anatolien.
Die allgemeine mythische Struktur des Romans ist offensichtlich. Kazantzakis erreicht jedoch etwas Subtileres und verleiht dem Inhalt seines Romans eine viel umfassendere interpretatorische und metaphorische Dimension, als es beim ersten Anblick der Fall zu sein scheint. Zuallererst vollzieht sich hier eine gravierende Inversion: Manolios wurde an Ostern zum Jesusdarsteller ernannt, d.h. er wurde an Ostern als Jesus geboren, und am ersten Weihnachtstag rituell in der Kirche getötet, während an dem Tag dem Mythos zufolge die Geburt Christi gefeiert werden soll. Diese Inversion deutet auf die Entstellung der christlichen Religion hin, wie sie in der heutigen Gesellschaft praktiziert wird, aber vielmehr auf die Infragestellung, ja, Inversion durch den Roman des zentralen Elements in der Überlieferung des Evangeliums, der Auferstehung, die durch eine sich endlos wiederholende und zwecklose Wiederaufführung ersetzt wird.
Eine weitere wichtige Verwicklung, die Kazantzakis in die parallele Verwendung der Überlieferung des Evangeliums und der gegenwärtigen, angeblich realistischen Erzählung einführt, betrifft das Verhältnis zwischen Mythos und Geschichte. Die Überlieferung des Evangeliums stellt an sich eine Kombination von Geschichte und Mythos dar, insoweit die Geschichte Jesu vor dem Hintergrund historisch fundierter Ereignisse stattfindet. Kazantzakis arbeitet sowohl mit den mythischen als auch mit den historischen Dimensionen seines Romans. Die Geschichte Jesu in der Bibel spielt vor dem Hintergrund der damaligen Bestreben der Juden, vom Römischen Reich unabhängig zu werden, Bestreben, die 70 n. Chr. mit der Zerstörung von Jerusalem ein böses Ende nahmen. Dadurch, dass seine Novelle in Kleinasien kurz vor der kleinasiatischen Katastrophe von 1922 sich zuträgt, ist Kazantzakis in der Lage, die historisch ähnlichen Schicksale der Juden in der Antike und der Griechen im 20. Jh. anzudeuten, sowie auch auf einen kausalen Zusammenhang zwischen denen und dem "Verrat" an Jesus gleichermaßen anzuspielen.
Im Roman ist aber eine weitere historische Dimension zu finden. Zahlreich sind die Anspielungen auf den Bolschewismus: Die außerhalb des Dorfes gelagerten Flüchtlinge bitten vergeblich die Dorfbewohner um Hilfe; sie gehen letztendlich in die Offensive, wenn sie keine Hilfe erhalten, und werden von den Dorfbewohnern und den Türken zu Bolschewiken abgestempelt. Der Konflikt zwischen dem Kommunismus und der gegebenen Gesellschaftsform ist naheliegend, da die Novelle kurz nach der Russischen Revolution spielt. Eigentlich geht es dabei aber vielmehr um den Konflikt, der in dessen Endphase war, als Kazantzakis an der Novelle schrieb: den griechischen Bürgerkrieg. Der Kampf zwischen den Habenden von Likovrissi und den Nicht-Habenden, die auf dem Berg außerhalb gelagert hatten, ist nicht nur eine Parabel über die Bigotterie und den Fanatismus der Christen, sondern auch über den damals realen Konflikt zwischen Griechen und Griechen, zwischen den Habenden der Städte und den Revolutionären, den Partisanen, in den Bergen. Manolios, der Jesusdarsteller, wird demnach nicht nur zum Heiligen, sondern auch zu einem sozialen Revolutionären, während in der Figur des Anführers der Flüchtlinge, des flammenden Priesters Fotis, die Merkmale und manche Auffassungen des traditionellen orthodoxen Asketen mit denen eines feurigen Revolutionsführers sich vereinigen.
Die eindeutige Anspielung auf Mythen nicht nur versieht die Handlung des Romans mit einer Struktur, sondern auch verknüpft durch metaphorische Reflexion drei verschiedene historische Zeiten miteinander – Judäa zu Zeiten der Leiden Christi, die Griechen in Kleinasien am Vorabend der Massenvertreibung im Jahr 1922-23 sowie den griechischen Bürgerkrieg von 1944-49, die wiederum an drei Ideologien oder Weltanschauungssysteme entsprechend gekoppelt sind: das Christentum, den Nationalismus von Megali Idea, der der Katastrophe von 1922 zugrunde lag, und den Kommunismus. Folglich, wenn der Jesusdarsteller getötet wird und die türkischen Truppen in jeder Minute in das Dorf einrücken, 1) wird das Christentum in der modernen Welt von den Mächten des Eigeninteresses, der Gier und des Schreckens besiegt, 2) wird das griechische Ideal des frühen 19. Jh. zunichte, da die griechischen Truppen in Anatolien besiegt wurden und die Griechen in Kleinasien die Flucht ergreifen wie einst die Juden in der Antike, 3) wird der Kommunismus in der Endphase des griechischen Bürgerkriegs besiegt – Ereignis, das mit dem Verfassen der Novelle zeitlich zusammenfällt. Die Rebellen auf dem Berg werden durch ihre feurige und verzweifelte Gesinnung der Brüderlichkeit dazu gebracht, ihre wohlgenährten Landsleute im Dorf anzugreifen, und werden besiegt. Die Übernahme einer sich wiederholenden Struktur, die verschiedene – sowohl alte als auch im Entstehen befindliche – Mythen miteinander verknüpft, macht den Tod von Manolios-Jesus zum Symbol für alle drei Niederlagen, und deutet darüber hinaus auf die zugrunde liegende Übereinstimmung zwischen drei unterschiedlichen und gar miteinander unvereinbaren Ideologien hin: dem Christentum, dem nationalen Irredentismus und dem Kommunismus.
(c) Roderick Beaton
* der Originaltitel des Romans Griechische Passion, auf Deutsch